Welt am Draht

1973

 

Filmliste Rainer Werner Fassbinder

 

  

Regie

Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch

Rainer Werner Fassbinder und Fritz Müller-Scherz

Vorlage

nach dem Roman von Daniel F. Galouye

Produktion

Westdeutscher Rundfunk

Kamera

Michael Ballhaus

Musik

Gottfried Hüngsberg und Archiv

FSK

ab 16 Jahre

Länge

204 Minuten, 2teiliger Fernsehfilm

Filmbeschreibung

Filmportal

Auszeichnung

Adolf Grimme-Preis

Besonderheit

- Siehe News der Fassbinder-Foundation - August 2009

- In neuem Glanz: Fassbinders Welt am Draht von Ralf Schenk

- Der "Spiegel" schreibt zur Veröffentlichung der DVD

Ur-/Erstaufführung

1. Teil am 14.10.1973, 2. Teil am 16.10.1973

Genre

Literaturverfilmung, Science Fiction

Der zweiteilige Fernsehfilm basiert auf einem von dem amerikanischen Autor Daniel F. Galouye (1920-1976) geschriebenen, in Deutschland 1965 als Goldmann-Taschenbuch veröffentlichten Science-Fiction-Thriller (Originaltital: "Simulacron - 3", London 1964).

      

        

Darsteller

Rolle
Klaus Löwitsch Fred Stiller
Mascha Rabben Eva
Adrian Hoven Vollmer
Ivan Desny Lause
Barbara Valentin Gloria
Karl-Heinz Vosgerau Siskins
Günter Lamprecht Wolfgang
Margit Carstensen Schmidt-Gentner
Wolfgang Schenck Hahn
Joachim Hansen Edelkern
Rudolf Lenz Hartmann
Kurt Raab Holm
Karl Scheydt Lehner
Rainer Hauer Stuhlfaut
Ulli Lommel Rupp
Heinz Meier Weinlaub
Peter Chatel Hirse

Ingrid Caven

Eddie Constantine

Gottfried John

Elma Karlowa

Christine Kaufmann

Rainer Langhans

Bruce Low

Karsten Peters

Walter Sedlmayr

El Hedi Ben Salem

Christiane Maybach

Rudolf Waldemar Brem

Peter Kern

Ernst Küsters

Peter Moland

Doris Mattes

Lilo Pempeit

Werner Schroeter

Corinna Brocher

Peter Gauhe

Dora Karras-Frank  

als Gäste

                

  

Inhalt  

    

Das wichtigste Projekt im Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung ist Simulacron I - ein elektronisches Monstrum, das die herkömmliche Computertechnologie auf eine neue Stufe heben soll. Simulacron kann, wenn es funktionsfähig geworden ist, gesellschaftliche, ökonomische und politische Vorgänge der Zukunft derart exakt voraussagen, als fänden sie hier und heute statt, als seien sie Wirklichkeit. Damit ist Simulacron zumindest für zwei Parteien interessant: für diejenigen, denen an einer Verbesserung der zukünftigen Lebensverhältnisse gelegen ist - und für diejenigen, die sich einen Informationsvorteil gegenüber etwaigen Konkurrenten versprechen, was, sagen wir, die Situation auf dem Aluminiummarkt betrifft.

   

Initiator und Leiter des Forschungsprojekts ist Professor Vollmer. Er stirbt unter rätselhaften Umständen - man einigt sich schnell auf Selbstmord, hat er doch kurz vor seinem Tode Zeichen einer eigenartigen geistigen Verwirrung an den Tag gelegt. Siskins, allmächtiger Chef des Instituts, macht Dr. Stiller zu seinem Nachfolger, den engsten Mitarbeiter des Verstorbenen. Aber bald registrieren die Kollegen auch an Stiller merkwürdige Symptome: Er behauptet, dass der Sicherheitschef des Instituts, Günter Lause, spurlos verschwunden sei, während alle wissen, dass der tatsächliche Sicherheitschef Hans Edelkern heißt und munter wie ein Fisch im Wasser ist. Er redet von einem Versuch, ihn, Stiller, umzubringen - es liegt auf der Hand, dass es sich um einen normalen Unfall gehandelt hatte. Und er widersetzt sich der Absicht seines Vorgesetzten Siskins, spezielle Hochrechnungen von Simulacron vorab an Privatpersonen weiterzugeben. Stiller ist offenbar der nervlichen Belastung nicht gewachsen, die seine neue Verantwortung mit sich bringt. Er leidet unter Schwindelanfällen, er erkennt Menschen nicht wieder, die er eigentlich gut kennen müsste, und er redet statt dessen von Menschen, die außer ihm keiner kennt. Stiller versucht, seine Probleme über die Arbeit an Simulacron zu vergessen. Simulacron ist für ihn nicht einfach eine leblose Maschine, sondern wird immer mehr zu einer Art Miniaturwelt, und wie immer Stiller natürlich weiß, dass die sogenannten Indentitätseinheiten in Simulacron nichts anderes sind als das Ergebnis von komplizierten elektronischen Vorgängen, erscheinen sie ihm manchmal wie wirkliche Menschen - denen sie ja auch nachgebildet sind und die sich in ihren Verhaltensweisen von wirklichen Menschen schon deshalb nicht unterscheiden dürfen, weil sie ja hundertprozentig genaue Voraussagen über menschliches Verhalten ermöglichen sollen. Ist Stiller schizophren? Das glauben viele - bis eines Tages Stiller bei einer routinemäßigen Transferierung seines Bewusstseins in die Schaltkreise von Simulacron dort einen alten Bekannten wiederzusehen glaubt: Günter Lause, den Sicherheitschef des Instituts, von dem außer Stiller jedermann behauptet, dass er nie existiert hat.

 

(Quelle: Broschüre "Fernsehspiele Westdeutscher Rundfunk", Ausgabe Juli bis Dezember 1973. Herausgeber: WDR-Pressestelle)

  

 

  

Unmittelbar nach seiner Arbeiterserie drehte Fassbinder Welt am Draht, einen zweiteiligen Science-fiction-Film nach einem Roman von Daniel F. Galouye, aber zugleich mit einer Identifikationsproblematik, die sich unverkennbar an Fassbinders persönlichste Filme anschließt: Haben wir überhaupt die Möglichkeit, "wir selbst" zu sein in einer Kultur, in der wir wie Puppen manipuliert werden?

In einem Science-fiction-Universum lässt sich diese Problematik ganz konkret vollführen. Ein Forscherteam unter der Leitung von Professor Vollmer hat ein Simulationsmodell hergestellt, wie sich das Leben in der Zukunft entwickeln wird - nicht mit Hilfe statistischer Kurven und Tabellen, sondern einer künstlich geschaffenen Zivilisation, deren Entwicklung die Forscher auf einem Fernsehschirm verfolgen können.

Die Zukunftszivilisation besteht aus lebendigen Puppen, die zum Verwechseln den Menschen gleichen, die sie geschaffen haben: Sie sind nämlich nach richtigen Menschen modelliert. Eines Tages begeht Professor Vollmer offensichtlich Selbstmord. Seine letzten Worte an einen Kollegen sind: "Ich weiß etwas, was du nicht weißt, und was niemand wissen darf, weil es das Ende dieser Welt wäre."

Fred Stiller, der engste Mitarbeiter des Professors, untersucht den Selbstmord und wird in eine Reihe unerklärlicher Ereignisse hineingezogen: der Kollege, der als letzter Professor Vollmer lebend gesehen hat, verschwindet buchstäblich vor Stillers Augen, und hinterher kann sich niemand erinnern, dass es ihn überhaupt gegeben hat. ein Polizist weiß nicht mehr, dass er eine Erklärung für Professor Vollmers Tod bekommen hat, und eine Zeitungsnotiz über das Ereignis ist einige Wochen später verschwunden. Stiller empfindet immer mehr Angst, Verzweiflung und Schuld, weil er dazu beigetragen hat, eine künstliche Zivilisation zu schaffen, deren Modelle sich als lebendige Menschen auffassen. Eines der Modelle heißt nicht zufällig Einstein: er ist darauf programmiert, zu wissen, dass er nur ein Modell ist, und zum Schluss gelingt es ihm, in die wirkliche Welt zu schlüpfen. Der erste Teil des Films endet damit, dass er Stiller erzählt, auch diese "wirkliche" Welt mit ihren Einwohnern sei ein künstliches Modell, das von einer höheren Zivilisation geschaffen wurde. Dieses verborgene Wissen habe zu Professor Vollmers "Selbstmord" geführt.

  

Im zweiten Teil ist Fred Stiller auf der Flucht. Seine Erkenntnisse machen ihn gefährlich. Er wird nicht nur von der Polizei verfolgt, die ihn verhaften will, und von Ämtern, die ihn in eine Zwangsjacke stecken wollen, sondern auch von Bäumen, die plötzlich umstürzen und von unvorhergesehenen Gasexplosionen, die von höheren Mächten gesteuert zu sein scheinen. Mit der unabweisbaren Logik, die die Repräsentanten der Normalität immer denen gegenüber an den Tag legen, die die Normalität in Frage stellen, wirft seine Umgebung ihm vor, an akuter Paranoia zu leiden.

Auf seiner Flucht erhält Dr. Stiller Hilfe von Professor Vollmers Tochter Eva, deren Unergründlichkeit verbergen soll, dass sie der höheren Zivilisation angehört, von der Stiller geschaffen wurde. Sie verlieben sich ineinander trotz ihres schwindelerregenden Wissens, dass der eine eine Mensch ist und der andere hingegen eine Puppe mit menschlichen Gefühlen, eine künstlich erzeugte Form, Produkt eines Zynismus, der über jeden Verstand geht.

Zum Schluss lässt sich der verzweifelte Stiller erschießen, um die Augen seiner Mitmodelle für den Betrug zu öffnen, dem sie ausgesetzt sind. In dem Augenblick, als er stirbt, gelingt es seiner geliebten Eva, einzugreifen und sein Bewusstsein mit dem des wirklichen Fred Stiller zu vertauschen. Während er sterbend in der Unwirklichkeit liegt, steigt die Kamera langsam in die Vogelperspektive hoch, und mitten hinein wird die ekstatische Liebesbegegnung zwischen Eva und dem nun wirklichen Fred Stiller geblendet, der jubelnd ausruft: "Ich bin, ich bin."

  

Wenn sie Liebe in Fassbinders Universum bisher kälter war als der Tod, so wird jetzt mit der merkwürdigen Vorstellung operiert, Liebe und Tod könnten zusammen Identität schaffen. Nur in der Science-fiction-Form gelang es dem Atheisten Fassbinder, den Gedanken der Wiederauferstehung auszudrücken und - durch die Science-fiction-Form selbst - wieder aufzuheben. Diese Vorstellung, deren Endpunkte zur Religiosität bzw. zur Nekrophilie führen, schien Fassbinder nicht wieder loszulassen und tauchte in verschiedener allegorischer Gestaltung auf, u.a. in Despair (1977), Berlin Alexanderplatz (1980) und Querelle (1982).

  

Zehn Jahre nach Welt am Draht hatte Ridley Scott großen Erfolg mit seinem Kultfilm Blade Runner, der auf genau derselben Idee beruht, dass nämlich künstliche Menschen verzweifelt versuchen, ins "echte" Leben zu gelangen.

Welt am Draht ist ein Fernsehfilm, der problemlos einen Samstagabend in jedem Unterhaltungskanal ausfüllen kann. Er ist glänzend und effektiv erzählt, ohne Andeutung der schroffen und eher idiosynchratischen Erzählform, die Fassbinder oft in seinen Kinofilmen pflegt. Aber das Erstaunliche an diesem Fernsehfilm ist, dass er Fassbinders ganz persönlichem Universum treu bleibt.

Sei eigentümlicher Schauspielerstil hat beispielsweise nie so "natürlich" gewirkt wie in dieser Serie, in der die Darsteller gerade mit jener "Künstlichkeit" auftreten sollen, die dem normalen Kinopublikum bei anderen Fassbinderfilmen oft so missfiel. In einem Science-fiction-Zusammenhang, in dem sich die Menschen als Puppen erweisen, wirken Fassbinders Schauspieler fast sozialrealistisch mit ihren leicht roboterhaften Bewegungen, den starren Blicken und ihrer Sprechweise, die der eines Fernsehansagers gleicht, der Überstunden macht. Auch die Verwendung von High-Tech-Dekor, in dem die Personen ständig von Spiegeln und anderen reflektierenden Flächen "verdoppelt" werden, ist ein fast thrillerhafter Ausdruck dafür, dass es eine Welt hinter dieser gibt, ja, dass das Spiegelbild ausnahmsweise vielleicht wirklicher ist als man selbst!

  

Das einzig Problematische in diesem zweiteiligen Fernsehfilm über die Wirklichkeit der Unwirklichkeit ist vielleicht der Schluss, in dem die wirkliche Wirklichkeit hergestellt wird. Er erscheint fast unglaublich. Als Fred Stillers marionettenhafte Existenz in einer abschließenden Umarmung aufgehoben wird, wirkt das so pathetisch-naiv, dass man die  Personen eigentlich weiterhin als Marionetten erlebt, nicht mehr in einem Science-fiction-Film, sonderen in einem Hollywood-Melodram. Die Ambivalenz des Happy Ends ist von Fassbinder natürlich beabsichtigt - aber wohl nicht die etwas verpfuschte Wirkung.

 

(Quelle: Christian Braad Thomsen: "Rainer Werner Fassbinder - Leben und Werk eines maßlosen Genies", Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg, 1993, Seiten 181-183, Textübernahme mit freundlicher Erlaubnis des Autors)

  

  

Kritiken zu lesen in

FK, 26.9.1973 (M. Engels-Weber): "Schöne Grüße aus dem Jenseits"

SZ, 18.10.1973 (E. Schmidt): "Vision von der dreifachen Wirklichkeit"

Die Zeit, 19.10.1973 (W. Donner): "EDV-Elegie"

epd - Kirche und Fernsehen, 20.10.1973 (W. Ruf): "Drei Stunden ohne Langeweile"

 

  

  

 

Kleine Bemerkungen am Rande:

- Rainer Langhans, ehem. Mitglied der Kommune 1, ist in einer kleinen Rolle als Kellner auf Siskins Party zu sehen.

- Die Romanvorlage von Galouye wurde 1999 erneut verfilmt mit dem Titel The 13th Floor - Bist du was du denkst?

  

 

 

 

  

  

  

 

 

 


  

 

 

  

   

   

   

   

   

   

    

   

   

  

Layout: Rosemarie Kuheim

Bearbeitet: 13. Oktober 2020

  

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